Blau ist meine Lieblingsfarbe. Sie zieht sich wie ein „blauer“ Faden durch mein Leben. Warum? Weil Blau für Ferne, Sehnsucht, Hoffnung auf das Überleben und Zufriedenheit steht. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich diese Symbolik so stark gespürt wie im Sommer 2015. Drei Monate – eine Geschichte. Gespickt mit kleinen und großen, blauen, persönlichen Wegbegleitern. Meine Hüttenlatschen, die wärmende Softshell-Jacke, der Deostift, die Zahnbürste und die Unterwäsche – alles blau. Meine Augen, sagen Freunde, seien so was von blau. So wie mein Rucksack. Der blaue Tiger.
Punktlandung am Airport
Nicht einmal elf Kilogramm wiegt das Gepäck an jenem Morgen meines Abflugs. 10, 6 kg zeigt die Waage am Airport Hamburg. Punktlandung. Ich bin nervös. Diese Spannung mag ich. Die Planung ist abgeschlossen. Aber: In den Bergen kann viel passieren. 1.400 Kilometer quer über die Alpen, zu Fuß von Maribor nach Monaco. Eine Idee, die ich schon fast 15 Jahre mit mir herumschleppe. Jetzt der Flug nach Wien, weiter mit dem Zug nach Maribor, Sloweniens zweitgrößter Stadt.
Dass meine Tour dort beginnt, ist kein Zufall. Der Startpunkt liegt am östlichsten Rand der Alpen. Am 1. Mai stapfe ich los. Vor den Toren Maribors warten die Höhen des Pohorje. Eher ein Mittel- denn Hochgebirge. Waldreich, menschenleer und zottig. Die Skepsis, ob alles passen würde, ist der Freude gewichen. Ein Traum wird wahr. Vorbei an alten Kirchen, leeren Dörfern, schwarz-blauen Seen und vom Winter plattgedrückten, gelb-braunen Grasebenen. Nach dem ersten Tag ist der Kopf frei für den Weg und Hamburg weit weg.
In der Hansestadt habe ich als Nachrichtenmensch einen stressigen Job, dort herrschen so viel Lärm und Großstadttrubel. Ganz anders die Alpen. Aus der Ferne schauen die blauen Berge wie ein fast unüberwindbares Bollwerk aus, das den Norden vom Süden trennt. Seit Millionen von Jahren Wind, Wasser und Wetter ausgesetzt, von Hitze und Kälte zu einer Fels gewordenen Skulptur modelliert. Zackige Spitzen, tiefe Schluchten, grandiose Gipfel, glänzende Gletscher, wilde Wasserfälle. Die Alpen wachsen noch immer. Und ich, wenn ich dort bin, wachse mit. Freunde fragen mich: Warum machst du diese verrückte Geschichte? Ich sage dann: „Weil sie da sind, …die Alpen. Kein Lärm, kein Stress, frei. Nur ich und die Natur. Den Rhythmus, die Ruhe der Berge mit allen Sinnen erfassen.“
Wissen, wohin man will
Hören, fühlen, riechen, schmecken. Gedanken sortieren: Hier bin ich JETZT, wohin will ich, wie komme ich dorthin. Das so oft weglos erscheinende Gelände schenkt mir lustiger weise Orientierung. Wer sein Ziel kennt, weiß wohin er will. Den Weg über das Pohorje vor den Toren Maribors empfinde ich als ideales Eingehgelände. In aller Ruhe finde ich Rhythmus und Tempo. Das Lauteste sind die Wasserfälle, die sich tosend in die Tiefe stürzen.
Leise sind die Begegnungen in den Hütten der ersten Tage in Slowenien und an der Grenze zu Österreich. Auf dem Weg nach Klagenfurt wird es dennoch hart. Zwar gibt es wenige Anstiege von Bleiburg nach Grafenstein, dafür viel Asphalt. Ein langer „Hatscher“ von fast 40 Kilometern an einem Tag. Die Socken „qualmen“. Mit dicken Bergstiefeln ist das Gehen auf Straßen nicht nur Vergnügen. Ich freue mich auf den Wörthersee bei Klagenfurt. Er verspricht Abkühlung.
Josef Huanigg ist der einzige Berufsfischer auf dem großen Gewässer. Jeden Morgen um sechs Uhr fährt er mit seinem Kahn hinaus und fängt dicke Fische. Karpfen, Hechte, Rotfedern. „Das hält jung und frisch“, findet der 80-Jährige. Krank war Huanigg noch nie und blau gemacht hat er auch noch nicht. Schlapp machen kommt für ihn nicht infrage. „Aufgeben kannst du eine Postkarte, sonst nix.“ Zufrieden wirkt der Mann.
Ein Gefühl, das sich auch bei mir längst eingestellt hat. Der Fischer bringt mich über den See. Ab jetzt wird es deutlich bergiger. Mit dem Dobratsch beginnt die Tour, wirklich alpin zu werden. Hinauf, auf gut 2.000 Meter. Steigen auf schmalen Pfaden liebe ich, wenn durch die Anstrengung ein leichtes Keuchen einsetzt, Schweißperlen auf der Stirn stehen, das Knirschen der Steine zu hören ist und die Fernsicht immer besser wird. Da bin ich nur auf das konzentriert, was ich gerade tue. Kraxeln, schauen und in mich hinein hören. Meine Physis passt. Auf den letzten Höhenmetern zum Dobratsch wird der Weg steiler, luftiger und felsiger. Alle großen Gipfel der Region sehe ich: Im Süden die Julischen Alpen, im Norden die hohen Tauern und im Westen die Dolomiten.
Die „weißen Berge“ erreiche ich nach zwei Wochen. Normalerweise ist das Hochpustertal bei Toblach von der Sonne verwöhnt. Jetzt allerdings gibt es das Gegenteil. Nebel und Nieselregen. Passend zum Wetter zeigt mir Curti Covi die Gräuel des ersten Weltkriegs. Toblach war Kampfgebiet mit Festungen und Schützengräben. „Schaurig, nicht wahr?“, fragt der junge Historiker. Ich nicke. Vor 100 Jahren verloren 20.000 Männer an dieser Front ihr Leben. Die meisten starben zumeist durch Felsstürze, Lawinen, Krankheiten, Kälte und Unterernährung, nicht durch Gefechte. Ein Wahnsinn.
Historiker Curti Covi über die Front im 1. Weltkrieg bei Toblach
Statt die Drei Zinnen im Hochpustertal zu bestaunen – sie hüllen sich in Nebel – wandere ich halbhoch durch die Dolomiten, die so viel Platz für die Phantasie lassen und sich bis Westen nach Brixen erstrecken.