Es ist Mittag. Keine zwei Stunden haben wir von Bruchhausen herauf gebraucht. Keine sonderliche Anstrengung, keine Grenzerfahrung. Die wartet aber nur wenige Meter entfernt.
Befände sich der Gipfel des Langenbergs nur 15 Meter weiter östlich, wäre er ein Hesse. Man wäre im Land von „Ebbelwei“, „Handkäs“ oder „Haddekuche“. Das Sauerland war und ist Grenzland. Heute stößt NRW an Hessen. Früher grenzte Westfalen an die Grafschaft Mark, also an das „südliche Land“, „an das Sauerland“. In einer Broschüre des Hochsauerlandkreises gibt es dazu eine knappe Zusammenfassung, die noch andere Theorien zur Namensgebung erwähnt.
„Einige Forscher leiten den Namen von den Sugambrern ab, einem germanischen Volksstamm. Andere berufen sich auf alte Urkunden, in denen das waldreiche Land Westfalens südlich der Ruhr als Süderland bezeichnet wird. Wieder andere meinen, Sauerland bedeutet so viel wie nasses Land. Dies hängt mit der großen Feuchtigkeit des Bodens, den vielen Quellen und Bächen zusammen. Im Plattdeutschen heißt Sauerland „Suerland“. Viele Sauerländer Bauern bezeichnen ihre Arbeit heut noch als „suer“ (sauer), weil sie schwer ist“.
Wir überqueren die Grenze und folgen ihr Richtung Norden. Der Abstieg wartet. Dass ich in wenigen Augenblicken eine neue Herleitung für den Namen Sauerland bekommen soll, ist mir nicht klar. Noch sind wir keine zehn Minuten gegangen, da begegnet uns ein wahrer Grenzgänger.
„Siehst du den Mann, der auf uns zukommt?“, fragt mich Jochen. Ich nicke. Schon zieht der schätzungsweise 60-jährige Herr an uns vorbei. So, wie ihn der liebe Gott erschaffen hat: nackt, braun gebrannt, nur mit blauen Turnschuhen an den Füßen, einem Tattoo und einem Piercing. „Hallo“, sagen wir. „Guten Tag“, erwidert der Mann und verschwindet rasch in Richtung Gipfelkreuz. Wir sind ein wenig perplex. „Mit so jemand rechnet man nicht unbedingt“, schaue ich fragend in den Wald. „Mist, ich hätte dem Nacktwanderer ein paar Fragen stellen sollen. Wäre bestimmt interessant gewesen.“ Ich bin ein bisschen sauer auf mich. Chance vertan. Jochen grinst. „Du Sauerländer!“
Gut, dass der Wald so grün ist. Das kühlt. Auf einem schmalen Weg sehen wir manchen Grenzstein, ehe wir den Richtplatz auf 750 Metern Höhe erreichen. Hier wurde im Mittelalter Recht gesprochen, vielleicht auch Unrecht. Wer weiß das schon? Heute ist der Ort ein ruhiges Rastplätzchen zum Durchschnaufen, ehe man die letzten drei bis vier Kilometer des insgesamt etwa 15 Kilometer langen Rundweges in Angriff nimmt.
Auf dem abwechslungsreichen Steig leuchten in der Ferne immer mal wieder die weißen Fachwerkhäuser von Bruchhausen durch den Wald. Nach einer Dreiviertelstunde verlassen wir die dichten Baumreihen. Die Landschaft öffnet sich ein letztes Mal, so als wollte sie uns mit einem großen Finale beschenken.
Jochen und ich sehen wieder liebliche, sanft geschwungene, grüne Hänge. Im Tal gurgelt der Medebach.
Gerade einmal gut vier Stunden ist es her, dass wir auf der gegenüberliegenden Seite zum Langenberg gewandert sind. Die Zeit plätscherte einfach wohltuend dahin. So wie der Bach das Mühlrad in Bruchhausen nur langsam drehen lässt. Entschleunigung. Das muss an der Farbe Grün liegen. Die beruhigt, besänftigt, befreit und lässt uns wachsen.