Aufbruch ganz früh morgens in Vent. September. Der ganz große Besucherstrom war längst abgeebbt. Ein prächtiger Tag kündigte sich an. Mit spätsommerlicher Wärme, viel Sonne, klarer Luft, großer Stille und tollen Aussichten. Das Gipfelziel hieß Kreuzspitze. 3.455m hoch, gilt sie als DER Aussichtsberg im Ötztal. Der Weg führte mich von Vent zunächst zur Martin-Busch-Hütte. Den Rucksack geschultert, erreichte ich das Haus der Berliner Alpenvereinssektion nach vergleichsweise flotten zweieinhalb Stunden.
„Da oben ist’s wunderscheeeen„
Die Hüttenleute kehrten gerade noch die Hinterlassenschaften der letzten Übernachtungsgäste zusammen. Ich trank einen Kaffee und erkundigte mich nach dem weiteren Weg. „Der ist gut beschildert, du gehst über die Brizzi-Hütte und den kleinen Samoarsee. Ist wunderscheeeeen da oben.“ Die Hütte ist übrigens benannt nach dem bekannten Landschaftsmaler Carl Brizzi. Von dem alten Gebäude stehen nur noch die Grundmauern. Kurze Rast. Von meiner Stirn flossen Sturzbäche. Ich schwitzte, atmete tief und fühlte mich… frei. Weit weg von all den Sorgen, von allem, was mich in den vergangenen Jahren so belastet hatte. Kein Gedanke ans Saufen, an Alkohol, an die tiefen Stimmungstäler, die mich fast in den Abgrund getrieben hätten. Stattdessen pochte mein Herz sehr lebendig, ich fühlte mich kräftig, stark, fast beschwingt.
So muss es wohl auch dem Venter Gletscherpfarrer Franz Senn ergangen sein. Mit Bergführer Cyprian Granbichler erklomm er 1865 die Kreuzspitze. Beide gelten als Erstbesteiger, zumindest als die ersten dokumentierten. Auf Senns Spuren also wandelte ich damals. Von der Brizzi-Hütte aus weiter hinauf. Über Geröll und Blockgestein, hinab in eine Mulde mit Granitfelsen. Anschließend deutlich steiler auf einen schmalen Rücken, der luftig zum Gipfel führte. Ein paar Mal musste ich in die Felsen greifen, leichte Kraxelei. Neben mir gähnte die Tiefe. Als ich noch an der Flasche hing, hätte ich so ein Gelände niemals betreten. Zu groß die Höhenangst.