„Reifenwechsel“ im Engadin
Ich folge lieber meinem „Alpentraum“ durchs Engadin. Es lockt mit Blumenwiesen, malerischen, alten Dörfern und neuen Stiefeln. Das erste Paar verursacht leichte Schmerzen am Fußballen. In Zernez finde ich neue „Treter“. Sie bringen mich blasenfrei an den Rand des Kantons Graubünden, ins Bergell und ins Misox.
Es gibt Menschen, die sagen, ich sei ein „süßer Spinner“. Die Ziegen auf dem schweißtreibenden Weg zum Pian Grand oberhalb von Mesocco finden eher, ich sei ein salziger. schlecken an meinen Händen um die Wette. Es nieselt leicht. Am Pian Grand, auf dem „Sentiero Calanca“, schlafe ich im Biwak. In Alleinlage steht die kleine dreieckige Holzschachtel auf einem Felsplateau, inklusive Panoramablick auf die exklusive und besonders schroffe Bergwelt. Ein strammer Wind rüttelt an der Holzkonstruktion. Saukalt ist die klare Nacht auf knapp 2.400 Metern. Das Wasser gefriert. Der Gaskocher erhitzt die 123-Tütensuppe. Heißer Tee, Weißbrot mit Salami und Käse tun gut.
Das Tessin, das Wallis und das Monte Rosa-Gebiet sind nah. Ein warmes Gefühl durchströmt mich: Ich werde dort ein Meer von stattlichen Viertausendern finden. Allen voran das legendäre Matterhorn, das ich aber nicht besteige. Zu viel Rummel und zu teuer. Dafür etliche andere Berge in der Nachbarschaft. Hochtouren in Eis und Schnee haben einen besonderen Reiz. Für mich sind zehn Gipfel in sechs Tagen ein Abenteuer. Die „Spaghetti-Runde“ im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet mache ich mit einer Gruppe inklusive Führer.
Allein über Gletscher zu gehen, machen nur sehr erfahrene Cracks oder Lebensmüde. Als Weitwanderer bin ich beides nicht, dafür Genießer, trotz der Strapazen beim An- und Abstieg und der dünnen Luft. Eisklettern mit Pickel und Steigeisen, Gratwanderungen über knirschendes Eis und tiefblau gähnende Gletscherspalten sind eine spezielle Herausforderung an Seele und Körper. Der Geist verarbeitet das Gesehene, der Muskel das Geschehene.
Jörg überquert eine Gletscherspalte
Die Folge: Fast unbemerkt verliere ich hier oben, auf 4.000 Metern, einige Kilos. Der Körper verbrennt Fettreserven. Und ich bekomme am linken Fuß die erste und einzige Blase der gesamten Tour. Die Steigeisen sorgen für Reibung im Schuh. Verschmerzbar. Je höher der Berg, desto geringer die Leistungsfähigkeit, lautet das Gesetz. Bei mir scheint es anders zu sein. Je höher, desto größer der Lustgewinn und das Problem, das Erlebte zu begreifen. Das Schreiben des Tagebuchs hilft und die Vorfreude auf das Dach der EU, den Montblanc, auch.