Mut zu Entscheidungen
Eine Woche dauert der Fußmarsch bis nach Chamonix. Zwei Drittel der Tour sind um. Beseelt von den Gipfeln des Wallis stehe ich am Fuß des 4.810 Meter hohen, weißen Doms. Das Wetter ist gigantisch. Sehr warm. Zu warm, wie sich herausstellt. Die Nullgradgrenze hat sich auf über 5.000 Meter verschoben. Die Gletscher schmelzen rasant in dieser Hitze. Wetterkapriole oder Folge des Klimawandels? Mein Kumpel und Bergführer Hansi Stöckl, der die „Alpinen Welten“ kennt, rät ab. „Zu gefährlich.“ Den Gipfelsturm sage ich schweren Herzens ab, weil das Eis zu weich ist. Immer wieder gibt es Gletscher-Abbrüche. Zwei Wochen später höre ich von einem Bergsteiger, der von einem Eissturz in die Tiefe gerissen wurde. Nun ist der Mann tot.
Gletscher sind wild und manchmal gefährlich, aber wunderschön. Das gilt in besonderem Maße für den Glacier d’Argentiere im Montblanc-Gebiet mit seinen Schründen, Seracs und Spalten. Vor sechs Jahren war ich schon einmal hier. Damals kam ich durch Zufall an diesen Platz, nach einer schwierigen Zeit. Ich hatte einen Alkoholentzug hinter mir. 30 Jahre war ich ein Säufer und jeden Abend stockbesoffen. Dennoch blieb Blau meine Lieblingsfarbe. Seit acht Jahren bin ich trocken und jetzt wieder auf dem blauen Eis des Glacier d‘ Argentiere.
Der Gletscher rumpelt, tropft und gurgelt, bei mir fließen Tränen . Die Erinnerung schüttelt mich. Pure Freude. Gletscher brechen und bersten. Das kann gefährlich sein. Brüche im Leben sind manchmal ein Neuanfang. Maribor-Monaco ist vielleicht die Tour meines Lebens, aber die Wanderung zum Glacier d‘ Argentiere war der Weg zum eigenen Ich. Eine Befreiung nach einer langen, mehr als steinigen und anstrengenden Lebens-Strecke. Die Tour über die Alpen ist im Vergleich dazu ein Spaziergang.
Was stellt so eine Weitwanderung mit einem Menschen an? Das fragen die Menschen immer wieder. Meine Antwort: „Macht es, dann merkt ihr es. Die Tage sind manchmal sehr erschöpfend und lang, aber voller Leidenschaft – ich bin zufrieden, ja glücklich, weil ich so viel lerne. Über die Welt der Berge, über die Natur, über mich.“ So eine Tour ist eine geniale Lebensschule. Wege suchen, Wege finden, Wege gehen. Diese Erfahrung nimmt mir keiner mehr.