Heute wollen Bernd Wolff, meine Partnerin Christine Kutschera und ich wieder zum Brocken. Zum „Blocksberg“, wie der Brocken im Volksmund heißt oder zum „deutschesten aller deutschen Berge“, wie es Heinrich Heine einmal formulierte. Oder wie mein Begleiter findet: „Der Harz ist faszinierend. Denn er birgt so vieles von etlichen anderen deutschen Landschaften in sich, obwohl das Gebirge ja nicht sonderlich groß ist.“
Gemächlichen Schrittes unterwegs stehen wir rasch am Ortsrand von Schierke. Die ersten Schweißtropfen sind vergossen. In wohltuender Stille. Selbst die Vögel scheinen leiser zu zwitschern als sonst. Es ist windstill und auch die Brockenbahn tutet noch nicht. Der erste Zug wird erst am Vormittag durch den Wald schnauben und wieder Tausende Tagesgäste auf die Kuppe bringen.
„Jetzt ist es am schönsten“, schwärmt Bernd Wolff. Er mag die Frische des Morgens, die Zeit, in der der Tag entsteht. Dann wirkt vieles noch so unberührt.. „Ein Langschläfer war ich nie“, sagt unser Begleiter, nimmt den Rucksack kurz von den Schultern und öffnet die Knöpfe am Hemd. Durchzug schaffen. Wir wählen den Weg über das Eckerloch. „Für mich ist das der schönste Pfad zum Brocken“, gibt Wolff freimütig zu. Mir und Christine spricht er damit aus dem Herzen.
Im Schutz des Waldes gehen wir gemütlich leicht bergan. Wurzelwerk, kleinere und größere Granit-Platten pflastern den Weg. Unschwierig. Wir plaudern über Gott und die Welt, über Bernd Wolffs Projekte, über meine Vorhaben und über die Natur. Immer wieder bleibt der Mann stehen, deutet mit seinem Stock auf eine Pflanze, atmet tief durch und flüstert fast: „Schauen Sie mal, eine schwarze Königskerze und dort wolliger Hahnenfuß.“
So streifen wir langsam durch den Wald, die Landschaft, durch die Natur. Hinauf. An einem gurgelnden Bächlein entlang.
Hier ein Foto schießen, dort erfrischen, dann wieder auf dem Weg im Staub kratzen. „Sehen Sie die schwarzen Reste hier?“, fragt mich Bernd Wolff. „Ja, was hat es damit auf sich?“, frage ich zurück. „Das sind Reste eines Meilers, den hier Köhler vor Jahrhunderten betrieben haben, um Holzkohle für die Erzindustrie zu gewinnen.“ Der Harz war und ist Bergbauland.
Auch Goethe wusste das und kam ganz gezielt in das damalige „Ruhrgebiet des Nordens“. Schauen, wie die Menschen in Goslar, Clausthal-Zellerfeld und anderswo Erze und Silber aus den Tiefen holen. Bei einem Besuch in einem Bergwerk wäre der junge Goethe (damals noch nicht Geheimrat) fast von einem herunterstürzenden Felsblock erschlagen worden. Glücklich, überlebt zu haben, entschied der Dichter, dass er den Brocken besuchen will. Am 10. Dezember 1777 sollte er dort erstmals oben stehen. Überwältigt von diesem Erlebnis schrieb er später in seiner Hymne „Harzreise im Winter“:
Du stehst, unerforscht die Geweide / geheimnisvoll offenbar / über der erstaunten Welt / und schaust aus Wolken / auf ihre Reiche und Herrlichkeit / die du aus den Adern deiner Brüder / neben dir wässerst.
Damals lag der Gipfel in einem dichten Wolkenkleid. Heute ist davon nur wenig zu sehen. Nur einige Wattebausche am Himmel, dafür viel Blau. Der Geruch von Tannenzapfen, Baumharz und Fichtennadeln strömt durch die Nase. Befreiend, betörend, belebend. Und doch ist das hier nicht die heile Welt.
Ja, den Brocken zu ersteigen und zu entdecken – das ist einmal ein physischer und zum anderen auch ein innerer (mentaler ?) persönlicher Vorgang. Man sollte sich nicht dem Touristenstrom anschließen (dem es vielleicht wichtiger ist, was es „oben“ preiswert zu essen gibt), gut in Form sein und nicht zu viel erwarten, denn es kann krass werden.
Der Brocken ist ein „alpines“ Geschenk, einfach so entstanden, zum Glück also ohne den Menschen. Dementsprechend gibt er sich auch anders als alles andere im Norden. Wie – das muss man selbst entdecken. DAS ist eben das Besondere. Dieses Besondere sollte man mit Respekt behandeln, dann bleibt es auch etwas Besonderes.
Sehr geehrter Herr Wolff, vielen Dank für Ihren Kommentar. Der Brocken war, ist und bleibt etwas Besonderes. Keine Frage. Danke!
„Das Poetische hat immer recht, es wächst über das Historische hinaus“, versicherte der Harzliebhaber Theodor Fontane aller Kulturgeschichte und erklärte damit die großen Harzdichter Goethe, Heine und in ihrem Gefolge Bernd Wolff, zuletzt mit seinem grandiosen Roman „Klippenwandrer – Heines Harzreise“, unabhängig von allen politischen Zeitläuften zu den eigentlichen „Herrschern“ und „Machthabern“ des Harzes. Und wenn bis heute im Harz „jeder Fußbreit Erde sich belebt und seine Gestalten herausgibt“ (noch einmal Fontane), dann ist das in unserer Epoche vor allem dem Werk Bernd Wolffs zu danken. Deshalb, mit einem Gruß des jungen Brockenwanderers Arthur Schopenhauer, „Wie liebt der Berg die Sonne“, Dank für diesen exklusiven Morgengang auf Deutschlands ungebrochenen Sehnsuchtsort Brocken.
Und merkwürdig, wie selbst dieser heitere Sommermorgenaufstieg an die uns tief innewohnenden kleinen und großen Gipfelaufstiege der Literaturgeschichte erinnert, angefangen von Petrarcas Aufstieg im April 1336 auf den Mont Ventoux bis hin zu Goethes letztem Aufstieg auf den Kickelhahn bei Ilmenau mit den Enkeln Walther und Wolfgang an seinem Geburtstag 1831. Vermutlich sitzt dem Abendland seit dem Bericht von Moses Aufstieg auf den Sinai und den dabei in direkter Begegnung mit Gott empfangenen Gesetzestafeln eine unausrottbare Gipfelsturm- und Aufstiegslust in den Knochen, möglicherweise ein von Freud nicht entdeckter Ur-Trieb?
Jedenfalls Dank für diesen in optischer wie sprachlicher Hinsicht ganz außergewöhnlichen Genuss! Man möchte gleich alles stehn und liegen lassen und in die „Gegend von Schierke und Elend“ reisen und von dort mit Goethe, Heine und Bernd Wolff im Gepräck auf den Brocken steigen.
Karl Koch
(Vorsitzender des Vereins Literaturlandschaften e. V., Nordhorn)
Sehr geehrter Herr Koch, vielen Dank für Ihren Eintrag. Eine Freude für mich, diesen zu lesen.